Hanau, 19.02.2020
Fatih Saraçoğlu
Am Abend des 19. Februar 2020 verübte ein Rechtsterrorist einen rassistisch motivierten Anschlag in Hanau, bei dem neun Menschen ermordet wurden: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Gegen 22 Uhr eröffnete der Täter das Feuer und erschoss vier Menschen in der Shishabar Midnight am Hanauer Heumarkt. Anschließend fuhr Tobias R. in den Stadtteil Kesselstadt, wo er in der Shishabar Arena Bar & Cafe fünf weitere Menschen ermordete. Sechs weitere Menschen wurden verletzt, eine davon schwer. Nach der Tat flüchtete der Täter in seine Wohnung und erschoss dort seine 72-jährige Mutter Gabriele Rathjen und anschließend sich selbst. Die Einsatzkräfte konnten das Fahrzeug des Täters identifizieren und drangen daraufhin in seine Wohnung ein, wo sie die beiden Leichen fanden. Der Vater des Täters befand sich auch in der Wohnung, war jedoch unverletzt. Pamphlet offenbart rechtsextremes und verschwörungstheoretisches Weltbild Die Generalbundesanwaltschaft ermittelt wegen Terrorverdachts. Ihr zufolge „liegen gravierende Indizien für einen rassistischen Hintergrund der Tat vor“. Grundlage für diese Einordnung ist unter anderem ein „Skript“, das der 42-jährige Täter im Internet veröffentlichte. Darin vermischen sich antisemitische, verschwörungsideologische Ideen mit rassistischen Vernichtungsfantasien. Das 24-seitige Dokument drückt den Hass des Täters auf Muslim*innen und seine sozialdarwinistischen Rassevorstellungen aus. #saytheirnames Der Anschlag von Hanau hat bundesweit Entsetzen, Trauer und Solidarität hervorgerufen. Etwa 6.000 Menschen folgten dem Aufruf „Solidarität statt Spaltung“ und demonstrierten am Samstag nach der Tat in Hanau gegen Rassismus und Menschenverachtung. In vielen weiteren deutschen Städten kam es zu Kundgebungen und Demonstrationen. Die Opfer wurden nicht zufällig ausgewählt, sondern wegen ihrer realen oder vermeintlichen Migrationsgeschichte. Hinter den Namen stehen individuelle Schicksale, Geschichten und Biografien. Unter dem Motto #saytheirnames wird eine Erinnerung an die grausame Tat gefordert, die die Opfer als Menschen sichtbar macht, statt den Täter in den Vordergrund zu rücken. Gökhan Gültekin stammte aus einer kurdischen Familie und war 37 Jahre, als er von einem Rassisten in Hanau ermordet wurde. In Kesselstadt wurde er der „bunte Hund“ genannt. Sein Vater sagte, er sei „der Besonnene und Fleißige in der Familie gewesen“. Gökhan Gültekin war gelernter Maurer. Abends arbeitete er nebenberuflich in einem Café-Kiosk. Er war ein hilfsbereiter Familienmensch und immer da, wenn er gebraucht wurde. Sein Bruder Çetin Gültekin sagte über ihn: „Mein Bruder hat unsere Familie zusammengehalten. Es müsste mir peinlich sein, er war acht Jahre jünger als ich, aber er hat sich um alles gekümmert, er war unser Optimist“. Sedat Gürbüz war 29 Jahre alt, als er von einem Rassisten in Hanau ermordet wurde. Er lebte bei seinen Eltern in Dietzenbach, wo er auch aufgewachsen ist und viele Jahre im Verein Fußball spielte. Er war Besitzer der Bar “Midnight”, mit der er sich einen lange ersehnten Traum erfüllt hat. Sedat war überall beliebt. Die Dietzenbacher haben mir immer gesagt: „Du hast so einen guten Sohn, er hat immer ein Lachen im Gesicht“, erzählt sein Vater Selahattin Gübüz. „Er hatte Träume. Er hatte Pläne. Seine Freundin kommt uns jede Woche besuchen, seit Sedat tot ist. Sie wollten heiraten und eine Familie gründen“, berichtet seine Mutter Emis Gürbüz Said Nesar Hashemi, 21 Jahre alt, war gelernter Maschinen- und Anlagenführer. Im nächsten Jahr wollte er seine Weiterbildung zum staatlich geprüften Techniker abschließen. „Hanau ist unsere Heimat. Auch mein Bruder hat diese Stadt geliebt”, sagt seine Schwester Saida Hashemi. Das Kennzeichen seines Autos endete auf 454 – Ziffern der Kesselstädter Postleitzahl. Als friedlichen, hilfsbereiten und herzlichen Menschen beschreiben ihn seine Verwandten und Freunde. Er „hatte immer ein offenes Ohr“ und lächelte viel, wie auf den Fotos zu sehen ist. „Wenn sich zwei stritten, ging er dazwischen und schlichtete“, blickt sein Bruder Said Etris Hashemi zurück. Am 19.02.2020 wurde er beim rassistischen Anschlag in Hanau ermordet. Die 35-jährige Romni Mercedes Kierpacz war Mutter zweier Kinder. „Sie war sehr offen und sympathisch. Man hat sich in ihrer Nähe sofort wohlgefühlt“, sagte ihre Freundin Jade M. Kierpacz arbeitete im Kiosk neben der Arena Bar, am Abend des 19. Februar wollte sie dort aber nur etwas kaufen, als der Täter von Hanau sie ermordete.Ihr Vater Filip Goman beschreibt sie als fürsorglichen Menschen: „Sie hat sich immer um alle gekümmert, sie wollte immer wissen, wer was macht, wo wer ist, warum jemand nicht zum Essen kam. Sie hat auch gern die Musik laut gedreht und getanzt. Allein, für sich, einfach so. So jemand will nicht sterben. Hamza Kurtović war mit gerade einmal 20 Jahren das jüngste Opfer des Anschlags. Seine Familie stammt aus dem bosnischen Prijeder. Er hatte kurz vor der Tat seine Berufsausbildung als Fachlagerist abgeschlossen und war gerade ins Berufsleben eingestiegen. Mit seinem Arbeitsplatz war Hamza Kurtović glücklich, seinen Eltern erzählte er, er wolle dort bis zur Rente bleiben. Seine Freizeit verbrachte er am liebsten mit seinen Freund*innen, außerdem hatte er eine Vorliebe für Autos. Seine Eltern beschreiben ihn als gerechten Menschen. „Man konnte deshalb auch gar nicht streng mit ihm sein. Und wenn man es doch sein wollte, dann hat er einen immer zum Lachen gebracht“, erinnert sich seine Mutter. Vili-Viorel Păun wurde 22 Jahre alt. Als 16-Jähriger kam er von Rumänien nach Deutschland, da seine Mutter krank war und sich dort behandeln lassen wollte. Seine Familie kam für ihn an erster Stelle. Um sie zu unterstützen, stellte er seine Ausbildung als Fliesenleger zurück und arbeitete als Paketzusteller. Seine Eltern beschreiben ihn als fröhlichen, hilfsbereiten und fleißigen Menschen. Seine Mutter Iulia Păun erzählt über ihn: „Vili konnte viele Sprachen, Italienisch, Französisch, Spanisch. Er wollte eigentlich studieren“. Vili-Viorel war ihr einziges Kind. Er wurde am 19.02.2020 von einem Rassisten in Hanau ermordet. Fatih Saraçoğlu wurde im türkischen Iskilip geboren. Er zog von Regensburg nach Hanau, um sich selbstständig zu machen. Sein Vater beschreibt ihn mit den Worten: „Er war meine größte Hilfe.“ Fatih Saraçoğlu besuchte ihn regelmäßig in Regensburg, half bei Behördengängen, übersetzte für ihn. Saraçoğlu war 34 Jahre alt, als er am 19.2.2020 von einem Rassisten in Hanau ermordet wurde. Sein Bruder sagt über ihn: „Er war jemand, der viele Ideen hatte, der viel wollte. Er hat mich auch immer angetrieben, hat mich gefragt, was ich aus meinem Leben machen will. Aber Fatih wusste auch, wie man das Leben genießt. Wir sind gern zusammen trainieren gegangen, dann in die Sauna und hinterher gut Essen, Steak und so was.“ Ferhat Unvar hatte kurdische Wurzeln und war 22 Jahre alt. Er hatte gerade seine Lehre als Heizungs- und Gasinstallateur abgeschlossen und war dabei, eine eigene Firma zu gründen. Er wollte „dafür sorgen, dass es uns allen zu Hause gut geht und warm ist“, sagte sein Cousin Aydin Yilmaz. Er sei ein lebenslustiger Mensch gewesen, der immer gelacht habe. Seine Mutter erinnerte sich an seine Wissbegier: „In der Schule mochte Ferhat Mathematik. Zu Hause hat er sehr viel gelesen. Er hat sich für die Welt interessiert, für Menschen. Wenn er schon alle Bücher gelesen hatte, die wir zu Hause hatten, hat er auch noch im Lexikon geblättert. So einer war er“. In der Arena Bar hat er sich häufig mit Freund*innen getroffen – so auch am Mittwochabend. Der 33-jährige Kaloyan Velkov lebte erst seit zwei Jahren in Deutschland. Er war Wirt der Bar La Vorte neben der Shishabar Midnight und wollte seine Familie in Bulgarien durch seine Arbeit finanziell unterstützen. Der 33-Jährige war orthodoxen Glaubens und wohnte in Erlensee. Er hinterlässt seine Frau Harieta und den gemeinsamen achtjährigen Sohn. Seine Cousine Vaska Zlateva erinnert sich an ihn als glücklichen Menschen, der gerne in Deutschland gelebt hat: „Kaloyan hat immer alle gegrüßt, hat mit den Leuten gelacht. Er wollte hier bleiben, er wollte gut Deutsch lernen, vielleicht irgendwann den Job wechseln und mehr Geld verdienen. Sich selbstständig machen.“ Initiativen von Betroffenen Wenige Tage nach der Tat, am 6. März 2020, gründeten Angehörige der Todesopfer, Überlebende und Unterstützter*innen die Initiative 19. Februar Hanau. Seitdem organisierte die Initiative Mahnwachen und Kundgebungen gegen das Vergessen an die Todesopfer und fordert Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen. Anfang Mai 2020 eröffnete die Initiative einen ‚Raum gegen das Vergessen‘ in Hanau für die Betroffenen, Überlebenden und solidarische Personen als Begegnungs- und Beratungszentrum. Die Bildungsinitiative Ferhat Unvar nahm am 14. November 2020 ihre Arbeit auf. Sie wurde initiiert und mitgegründet von Serpil Temiz, der Mutter von Ferhar Unvar. Sie möchte damit vor allem antirassistische Bildung und Empowerment leisten und bietet dazu ein breites Angebot an. Kritik an Behörden vor, während und nach der Tat Seit der Tat wird immer wieder Kritik an staatlichen Behörden formuliert. So wurde bekannt, dass sehr wahrscheinlich derselbe Täter bereits im Jahr 2018 in Hanau-Kesselstadt Jugendliche rassistisch beleidigt und mit einem Sturmgewehr bedroht hat. Statt den flüchtigen Täter zu suchen, versuchten die Beamt*innen damals den Anrufer des Notrufs auszumachen, da dieser den Einsatz zu zahlen habe. Während der Tat riefen viele Zeug*innen den Polizeinotruf an, erreichten aber niemanden. Wie im Januar 2021 Recherchen offenbarten, konnten zum Zeitpunkt der Tat die Notrufe nur an zwei Apparaten entgegengenommen werden. Doch anscheinend waren nicht einmal diese beiden durchgängig besetzt und eine Rufumleitung zu einer Leitstelle nicht eingerichtet. So wurden viele Hinweise nicht gehört, die womöglich zur Verhinderung der Morde am zweiten Tatort beitragen hätten können. Am zweiten Tatort, der Arena-Bar, war zum Tatzeitpunkt der Notausgang verschlossen. Die Gäste saßen in der Falle und konnten also nicht vor dem Attentäter fliehen. Im Dezember 2020 stellten Angehörige frustriert Strafanzeige gegen Unbekannt. Erst seitdem ist der verschlossene Notausgang Gegenstand der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. Fast ein Jahr nach dem rassistischen Terroranschlag veröffentliche die Initiative 19. Februar Hanau am 14. Februar 2021 ein Video mit einer Anklage. Dabei tragen Angehörige der Todesopfer und Überlebende detailliert bisherige Recherchen zur „Kette des Versagens“ vor.